„Integrierte Systeme sind in Serienfahrzeugen noch sehr selten“
Für das automatisierte Fahren ist eine genaue Positionserfassung des Fahrzeugs unabdingbar. Welche Herausforderungen dabei zu meistern sind, insbesondere bei einem kompletten Signalausfall, welche Möglichkeiten der Absicherung es gibt und welchen Einfluss die Synchronisation der Daten aus den Fahrzeugsensoren auf die Positionsdaten hat, erläutert Stefan Geißler, Geschäftsführer von ppm.
ATZextra _ Was sind die Herausforderungen beim Erfassen und Übermitteln von Positionsdaten für das automatisierte Fahren?
GEISSLER _ Die große Herausforderung besteht darin, bei laufend wechselnden Umgebungsbedingungen, vom Freifeld bis zum Urban Canyon oder Tunnel, eine möglichst hohe Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit und Genauigkeit der Positionsbestimmung zu erreichen. Dazu gibt es zwar heute schon entsprechende technische Lösungen, diese kommen aber aufgrund der Gerätegröße und des Preises für Pkw in der Serie nicht infrage. Deshalb gilt es, Kompromisslösungen zu finden, die in den Serienfahrzeugen verwendet werden können, und diese eingehend zu prüfen. Für diese Phase der Entwicklung von integrierten Positionierungslösungen stellen wir Lösungen bereit.
Wie ist derzeit der Stand der Technik bei der Ermittlung von Positionsdaten?
Bei Serienfahrzeugen ist das zentrale Element zur Positionsbestimmung ein GPS beziehungsweise ein GNSS-Empfänger. GNSS steht hier für Global Navigation Satellite System. Oft wird das amerikanische GPS-System als Synonym für GNSS-Systeme benutzt, die neben den GPS-Signalen auch die russischen Glonass-Signale, das europäische Galileo-System sowie das chinesische Beidou-System und weitere nutzen. Der Hauptvorteil von GNSS-Systemen gegen über reinen GPS-Systemen liegt vor allem in der wesentlich höheren Verfügbarkeit von Positionslösungen in schwierigen Umgebungen. Diese wird durch die viel größere Zahl von Satelliten ermöglicht, die empfangen werden können. Die Verbesserung der Positionierungszuverlässigkeit und -genauigkeit ist natürlich auch ein großer Vorteil. Eine weitere Steigerung der Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit von Positionierungssystemen lässt sich durch integrierte Systeme erreichen. Diese verarbeiten neben GNSS-Signalen auch Daten von Inertial-Measurement-Systemen (IMUs), Abstands-, Rad- und Lidarsensoren sowie MapMatching für eine gemeinsame integrierte Positionslösung. Solche integrierten Systeme sind in Serienfahrzeugen aber noch sehr selten.
Wie ist die Funktionsweise des Systems und ist es eine Ergänzung oder ein Ersatz für derzeitige Positionierungsverfahren?
Die Systeme, die wir einsetzen, verwenden neben den GNSS-Signalen auch IMU-Daten. Dabei kommt sowohl bei den GNSS-Empfängern als auch bei den IMUs nur Hardware auf Referenzklassenniveau zum Einsatz. Neben der hochwertigen Hardware ist auch die Einbindung der Daten ein entscheidender Faktor. Die von uns verwendeten Systeme von NovAtel aus der Hexagon Gruppe nutzen die SPAN-Technologie. Die GNSS und IMU Komponenten arbeiten hierbei in einem Deeply-Coupled-Verfahren zusammen. Bei den meisten Lösungen auf dem Markt werden nur Loosely-Coupled-Verfahren verwendet. Der Unterschied zwischen diesen beiden liegt im Integrationslevel. Bei einem Deeply-Coupled-System greifen die Zahnräder wesentlich tiefer und genauer ineinander als bei einem Loosely-Coupled-System. Mit der SPAN-Technologie sind nachweislich zuverlässigere und genauere Positionsberechnungen möglich. In den Testflotten vieler Hersteller hat diese Technologie schon die Loosely-Coupled-Systeme verdrängt.
Welche Daten müssen im Fahrzeug vorliegen, damit die Positionsberechnungen möglich sind? Wie lange kann das System aus Bewegungsdaten die Position ableiten?
Für die erstmalige Positionsberechnung werden mindestens die Daten von fünf parallel empfangenen Navigationssatelliten benötigt. Je mehr Satelliten man parallel empfangen kann, desto stabiler und genauer wird die GNSSPositionslösung. Im freien Feld empfangen moderne GNSS-Empfänger zwischen 20 und 30 Satelliten. Für eine integrierte Positionslösung sind neben den Satellitendaten selbstverständlich auch IMU-Daten notwendig. Dabei handelt es sich um translatorische und rotatorische Beschleunigungsmessdaten aller drei Raumrichtungen. Wie lange ein integriertes System die Position aus den IMU-Daten berechnen kann, hängt zum einen von den Genauigkeitsanforderungen an die Position ab, zum anderen von der Güte und damit auch direkt vom Preis der eingesetzten IMU-Hardware. Entsprechend divergiert die maximale Stützzeit beispielsweise für submetergenaue Positionen von 20 bis 30 Sekunden bis zu mehreren Minuten.
Wie lang kann ein automatisiertes Fahrzeug mit dem neuen System
ohne Satellitenkontakt fahren?
Unsere Systeme sind nicht als primäres Positionierungssystem für autonomes Fahren im Einsatz. Sie dienen als Referenzsysteme, um die Güte der integrierten Fahrzeug-Positionierungssysteme zu überprüfen und eine Optimierung der eingesetzten Fahrzeughardware und der Sensorfusion zu ermöglichen und zu beschleunigen.
Welche zusätzlichen Systeme werden benötigt, und wie erfolgen die Einbettung in das Fahrzeugsystem und die Sensorfusion?
Für Serienfahrzeugsysteme werden zur Positionierung neben GNSS-Signalen auch Daten von IMUs sowie Sensoren für Abstand, Odometrie, Radar, Lidar und hochgenaue digitale Kartendaten benötigt. Aus all diesen Daten kann dann mittels eines komplexen Kalmanfiltermodels und Map-Matching-Algorithmen eine integrierte Positionslösung berechnet werden. Hierbei stellt insbesondere die Entwicklung eines zuverlässigen und performanten Kalmanfiltermodels die größte Herausforderung dar.
Wie wird die bestehende Infrastruktur eingebunden und was wird infrastruktur seitig in Zukunft benötigt?
Hier möchte ich zwischen der Fahrzeuginfrastruktur und der Fahrzeugumgebungsinfrastruktur unterscheiden. In letzterer werden zum einen Navigationssatellitensysteme benötigt. Sie sind bereits vollständig vorhanden und werden laufend weiter ausgebaut sowie modernisiert. Außerdem werden für eine hohe Positionierungsgenauigkeit von unter 1 m GNSS-Korrekturdaten benötigt. Die Infrastruktur für Korrekturdatendienste ist leider extrem heterogen und kann sich je nach geografischer Region stark unterscheiden. Prinzipiell können Korrektur daten per Mobilfunk, Funk oder Satellit in das Fahrzeug gelangen. Aufgrund der regional großen Unterschiede von vorhandenen oder nicht vorhandenen terrestrischen Korrekturdatendiensten und Übertragungswegen sind wir überzeugt, dass sich die Übertragung per Satellit durchsetzen wird, denn nur so können OEMs den weltweiten Einsatz garantieren. Es gibt bereits erste Korrekturdatensysteme via Satellit, die auch genaue Positionierungen von unter 10 cm ermöglichen. Hexagon hat zum Beispiel im Januar 2022 den Service TerraStarCPro weltweit in Betrieb genommen. Last but not least werden hochgenaue digitale Straßendaten benötigt. Auch hier gibt es regional enorme Unterschiede bei der Verfügbarkeit und Qualität der digitalen Straßendaten. Seitens der Fahrzeuginfrastruktur werden neben den bereits erwähnten Sensoren noch ein präziser Zeittakt zur Datensynchronisierung, beispielsweise via Precise Timing Protocol (PTP), hoch performante Datenbusse, wie etwa Automotive Ethernet, und extrem leistungsstarke Prozessoren benötigt.
Wie groß ist die Datenmenge, die zur Positionsbestimmung verarbeitet werden muss, und wie werden diese Datenmengen übertragen, wenn mehr als ein Fahrzeug unterwegs ist?
Die Datenmengen sind im Vergleich zu optischen Systemen oder Radarsystemen sehr überschaubar. Die Daten setzen sich zum einen aus den Satellitendaten und zum anderen aus den IMU-Daten zusammen. Ihre Menge ist variabel und hängt von der Anzahl der empfangenen Satelliten und der Datenrate der IMU ab. Mehr als 250 kb kommen aber nicht zusammen. All diese Daten werden vom integrierten GNSS/IMU-System verarbeitet, sodass die Fahrzeugsysteme damit nicht belastet werden.
Wie funktioniert die Synchronisation der Daten aus den Fahrzeugsensoren mit den Positionsdaten? Worauf muss man dabei achten?
Für die Synchronisation wird ein fahrzeugweiter, präziser Zeittakt benötigt. Die Daten unterschiedlicher Sensoren müssen zeitrichtig zusammengeführt und ausgewertet werden. Ein genauer Zeitstempel der jeweiligen Sensordaten ist enorm wichtig. Hier bietet sich eine Zeitsynchronisierung via PTP an, wobei der PTP-Server selbst ebenfalls GPS-Signale verwendet, um einen hochgenauen UTC-synchronen Zeittakt zu generieren.
Ergibt sich dadurch ein steigender Strombedarf?
Die Hauptstromverbraucher in so einem integrierten System sind sicherlich die Lidarsensoren, die typischerweise 25 W und mehr verbrauchen. Daneben ist der Verbrauch von Hochleistungsprozessoren, der 10 W und mehr betragen kann, auch nicht zu vernachlässigen. Der Verbrauch der übrigen Sensorik ist eher gering und sollte die 10-W-Grenze nicht überschreiten.
Was passiert bei einem kompletten Signal ausfall, wie ist das System abgesichert?
Wir müssen hier unterscheiden, wie der Signalausfall zustande kommt.
Ein gleichzeitiger Ausfall aller vier Satellitensysteme ist nicht realistisch. Bei einem Ausfall wegen einer Komplettabschattung der Satellitensignale, zum Beispiel während einer Tunnelfahrt, werden andere Sensoren des Fahrzeugs zur Positionierung stärker herangezogen. Bei unseren Systemen kommt eine hochwertige IMU zum Einsatz, um die Fahrzeugposition zu stützen, was bei Serienfahrzeugsystemen für die Fortführung der Fahrzeugnavigation ebenfalls schon sehr gut funktioniert. Bleibt noch die Störung des GPS Signals durch sogenannte Jammer, also Störsender: Dies tritt aktuell nur sehr selten und kleinräumig auf, dennoch wird auch an der Jamming-Immunität mit Hochdruck gearbeitet. Von Hexagon NovAtel gibt es ein sogenanntes GAJT System, das ein Jamming-Störsignal um bis zu 40 dB unterdrücken kann. Diese Technologie wird aktuell aber nur in sicherheitsrelevanten, zumeist militärischen Bereichen eingesetzt. Die Geräte unterliegen zudem einer Exportbeschränkung.
Wo wird das System jetzt schon eingesetzt? Gibt es konkrete Anwendungsbeispiele?
Unsere GNSS/IMU-Systeme werden derzeit von fast allen deutschen Automobilherstellern und Tier-1-Zulieferern eingesetzt. Unsere Kunden nutzen die Systeme zum einen als Referenzsysteme, um ihre eigenen Entwicklungen im Bereich Sensorfusion zu validieren, und zum anderen als Null-Sensor, um Daten zukünftiger Sensorfusionssysteme zu emulieren. Diese Daten kommen dann zur Entwicklung und Prüfung von Algorithmen zum Einsatz, zum Beispiel für das autonome Fahren.
Gibt es unterschiedliche Anforderungen etwa bei Pkw, Nfz und Off Highway-Anwendungen?
Unsere Kunden setzen unsere Systeme sowohl in Pkw und Nfz als auch in Off Highway-Anwendungen ein. Obwohl diese Anwendungsszenarien in Bezug auf die Messumgebung und Fahrzeugdynamik sehr unterschiedlich ausfallen, sind die Anforderungen an die Systeme sehr ähnlich, denn sie sollen immer Positionsdaten in Referenzqualität liefern. Im Wesentlichen können wir diese unterschiedlichen Anforderungen mit jeweils auf die Anforderung optimierten Gerätekonfigurationen abdecken.
Herr Geißler, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
INTERVIEW: Alexander Heintzel
Mit freundlicher Genehmigung der ATZextra, Sonderausgabe 2022 in Kooperation mit ppm PRECISE POSITIONING MANAGEMENT GmbH, Grube 39A, 82377 Penzberg; Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
PDF: → Automatisiertes Fahren (de) → AUTOMATED VEHICLES (en)
![Stefan Geissler Portrait](https://ppmgmbh.com/wp-content/uploads/2022/04/Stefan-Geissler-Portrait-281x300.jpg)
Stefan Geißler ist seit April 2000 Geschäftsführer der ppm GmbH. Er studierte an der Hochschule München Physik. Schon während des Studiums kam er mit dem Thema GPS in Berührung, indem er für Vermessungsbüros weltweit GPS- Messungen plante und durchführte.
Mit dieser Erfahrung startete er bei dem damals führenden GPS-Hersteller Ashtech als Sales Manager für Europa, Afrika und den Mittleren Osten. Bald darauf übernahm er dieses Geschäftsgebiet und gründete die ppm GmbH. Neben der Geschäftsführung betreut er auch den Geschäftsbereich GNSS- und Lidar-Lösungen für die Industrie.